Niederspannung (230/400 V) – Grundlagen, Systeme und Besonderheiten
Der Niederspannungsbereich umfasst in der Regel Spannungen bis zu 1000 V AC, wobei in der Praxis vor allem das 230/400 V-System im Mittelpunkt steht. Dieses bildet die Grundlage der Energieverteilung in Wohngebäuden, Gewerbeeinrichtungen und einem Großteil der Industrieanlagen. Die dreiphasige Versorgung (Drehstrom) mit Neutralleiter ermöglicht eine hohe Flexibilität im Netzaufbau und eine effektive Leistungsübertragung.
Netzformen: TN, TT, IT
Ein zentrales Thema im Niederspannungsnetz ist die Wahl der Netzform:
TN-System (Terre-Neutral): Am häufigsten in Deutschland. Der Neutralleiter ist mit dem Schutzleiter kombiniert (PEN-Leiter) oder parallel geführt (TN-S, TN-C).
TT-System (Terre-Terre): Schutzleiter (PE) ist direkt geerdet, aber nicht mit dem Neutralleiter verbunden. Erdungswiderstand entscheidend für Schutzmaßnahmen.
IT-System (Isolé-Terre): Kein Punkt des Netzes ist direkt geerdet. Erdschlussstrom ist klein, Ausfallsicherheit hoch. Einsatz z. B. in medizinischen Bereichen.
Die Netzform beeinflusst direkt die Wahl der Schutzmaßnahmen, die Selektivität sowie das Erdungskonzept.
Schutztechnik und Selektivität
Im Niederspannungsnetz dienen Leitungsschutzschalter (LS), Fehlerstromschutzschalter (RCD), Sicherungen und Überspannungsableiter dem Schutz von Mensch, Anlage und Infrastruktur. Die Selektivität stellt sicher, dass im Fehlerfall nur der betroffene Stromkreis abgeschaltet wird. Eine abgestufte Auslegung von Schutzorganen ist hierbei essenziell.
LS-Schalter (z. B. B16): Schutz vor Überlast und Kurzschluss. Charakteristik (B, C, D) bestimmt Auslösestrom.
RCD (30 mA, 300 mA etc.): Schutz vor Fehlerströmen, z. B. durch Körperströme.
Lastverhalten: Ohmisch, Induktiv, Kapazitiv
Ohmische Lasten wie Heizungen oder Glühlampen zeigen keine Phasenverschiebung zwischen Strom und Spannung.
Induktive Lasten (z. B. Motoren) erzeugen eine Stromverzögerung. Der Cosinus phi sinkt, Blindleistung entsteht.
Kapazitive Lasten (z. B. Schaltnetzteile großer IT-Anlagen) lassen den Strom voreilen.
Ein unsauberes Verhältnis dieser Lasten kann zu Netzrückwirkungen führen (Oberschwingungen, Spannungseinbrüche). Besonders bei modifizierter Sinusspannung zeigen sich diese Effekte deutlich.
Einschaltverhalten und Kurzschlussstrom
Der Einschaltstrom bei Motoren oder Transformatoren kann ein Vielfaches des Nennstroms betragen. Das resultiert aus der fehlenden Gegeninduktion im Stillstandszustand. Leitungsschutz und Dimensionierung müssen diesen Effekt berücksichtigen.
Zur Dimensionierung von Schutzorganen und Leitungen wird oft die sogenannte Schleifenimpedanz gemessen. Sie erlaubt die Berechnung des maximal möglichen Kurzschlussstroms am jeweiligen Punkt. Dabei gilt:
> Je niedriger die Impedanz, desto höher der Kurzschlussstrom und desto schneller die Auslösung des LS.
Messgeräte (z. B. Gossen Metrawatt Profitest) arbeiten dabei mit definierten Prüfströmen und ermitteln den Spannungsfall, um daraus die Impedanz zu berechnen. Die Angabe des LS-Schalters dient lediglich der Orientierung – die Messung selbst ist physikalisch unabhängig von der Einstellung.
Netzqualität und Kompensation
Blindleistung verursacht unnötige Netzbelastung und erhöht die Stromkosten. Besonders bei induktiven Lasten kann eine Kompensation mit Kondensatorbatterien sinnvoll sein. In IT-Umgebungen sind aktive Netzfilter im Einsatz, um hochfrequente Störungen (Oberschwingungen) zu eliminieren.
Fazit
Der Niederspannungsbereich ist der sichtbarste und praktisch relevanteste Teil der Energieverteilung im Alltag. Er birgt jedoch eine hohe technische Komplexität, insbesondere im Zusammenspiel von Schutztechnik, Netzqualität und physikalischen Effekten. Eine fundierte Planung und Analyse – auch bei kleinen Anlagen – ist entscheidend für Sicherheit, Effizienz und Langlebigkeit.